Die Backsteinstadt Hamburg

Alle Generationen der Backsteinstadt auf einen Blick

Die stadthistorische Bewertung der Erhebung des Backsteinbestandes (vgl. Abb. 1) steht aus und soll hier in Angriff genommen werden. Handelt bei dem Hamburgischen Backsteinbestand um eine Addition vieler einzelner Backsteinbauten oder um gesamtstädtisch übergreifende städtebauliche Strukturen? Wie sind diese Strukturen entstanden? Vor diesem Hintergrund und der in den vorausgehenden Jahren in Hamburg geführten Diskussion zur Bedeutung von Backsteinfassaden neben den stetigen Anforderungen aus Nachverdichtung und Anpassung an den Klimawandel stellt sich die Frage nach der Schutzwürdigkeit der Backsteinstadt Hamburg immer wieder neu.

Im Folgenden soll zunächst die städtebauliche Entwicklung der Backsteinstadt Hamburg beleuchtet werden.

Abb. 1 Karte „Kompletter Backsteinbestand“ (Quelle: www. hamburg.de/backstein/Gesamtstadt)

Planung als Vision

Der Hamburgische Oberbaudirektor Fritz Schumacher  initiiert überwiegend während der neunzehnhundertzwanziger Jahre eine Neuen Stadt in Hamburg. In der Groß- Hamburg Denkschrift des Hamburger Senats übersetzt Schumacher seine landesplanerische Vision für Hamburg 1921 in eine heute unauflöslich mit ihm verbundene Signatur (vgl. Abb.2). Mit dem Schema der natürlichen Entwicklung des Organismus Hamburgs (vgl. Abb.2) scheint er sich auf lineare Stadtentwicklungsstrukturen entlang der sternförmig auf das Zentrum von Hamburg ausgerichteten Bahnlinien festzulegen. Folgt man seiner Ausführung in „Hamburg und seine Bauten“ von 1929 formuliert er jedoch eine weitere Stadtentwicklungsvision:

Sucht man nach einem Gesetz des Wachstums so kann man vielleicht sagen, daß [!] sich die in Entwicklung befindlichen Gebiete vom Zentrum aus betrachtet, strahlenförmig nach allen Seiten erstrecken, so daß [!] später doch vielleicht aus all den einzelnen Flecken etwas wie eine kranzartige Zone entsteht [Hervorhebung durch Verfasserin!], die Kunde gibt von dem neuen Wollen der Stadt“.[1]

Neben einem „strahlenförmigen“, achsialen verfolgt er also auch einen „kranzartigen“, radialen Stadtentwicklungsansatz. Die Umsetzung dieses “Kranzes” treibt er in den folgenden Jahren in Form der um das Hamburgische Zentrum angeordneten backsteinernen Stadterweiterungssiedlungen voran.

Abb. 2 Schema der natürlichen Entwicklung des Organismus Hamburg (Schumacher:1921)

Reformbedarfe der gründerzeitlichen Stadt
Schon weit vor 1918 beginnen sich die betonierten Statements der feudalen Ordnung in der Lebensreformbewegung zu verflüssigen, in der neue Formen, Inhalte und Forderungen in Kunst, Kultur und Gesellschaft formuliert werden. Beim Umbau des Deutschen Reiches in eine parlamentarische Demokratie werden auch neue Maßstäbe an den Städtebau angelegt. Im Städtebau zeigt sich, dass die Wohnungsnot durch das hochverdichtete wilhelminisch-gründerzeitliche Konzept aus Korridorstraßen mit Hamburger Schlitzbauten[3], überbelegten Wohnungen und Bebauung der Innenhöfe mit zusätzlichem Wohnungsbau bzw. gewerblich-industriell genutzten Gebäuden nicht gelöst werden kann sondern zusätzliche – hygienische – Probleme erzeugt. Schumacher ist spätestens mit seiner Amtseinführung als Oberbaudirektor 1923 federführend für die städtebauliche Reform der Stadt Hamburg. Nach seiner Ansicht handelt es sich bei der Reform der Stadt nicht allein um architektonische, sondern um soziale Fragen[4]. Mit dem Anspruch, die Misere zu ändern, liegt er auf der Höhe der zeitgenössischen Reformbestrebungen und arbeitet  intensiv mit den preußischen Nachbarstädten zusammen.

Die Hamburgische Städtebaureform
Die geänderten Rahmenbedingungen nach der Revolution von 1918 und nicht zuletzt die Verhandlungskünste Schumachers als “dirigierendem Architekten[6] kennzeichnen die Reform der Freiflächen, der Bauzonung, des Bauorganismus[7] als Sozialen Städtebau, dessen Siedlungsbauten überwiegend mit Backsteinfassaden ausgeführt sind (vgl. Abschnitt Sozialer Städtebau).

Die Backsteinstadt Hamburg entsteht
Die Stadterweiterungssiedlungen Eimsbüttel-Schlump/ Winterhude-Jarrestadt/ Barmbek- Nord/ Barmbek- Süd – Dulsberg/ Hamm und Horn werden um die Hamburger Kernstadt vor allem entlang der “Ringbahn” errichtet, dem zentralen Streckenabschnitt der heutigen  U- Bahnlinie 3, die mit gelber Farbsignatur im Streckennetz des HVV dargestellt ist. Mit den Einfamilienhaussiedlungen, die linear der heutigen U- Bahnlinie 1 nach Norden folgen und der Großwohnsiedlung Veddel an der Bahntrasse nach Süden, bilden sich erste “Backsteinachsen”, nämlich die Langenhorner und die Anfänge einer Bremer Achse aus. In Altona führten die Planungen von Schumachers kongenialem Kollegen, dem Architekten und Bausenator Altonas, Gustav Oelsner, der ebenfalls die Reform der gründerzeitlichen Stadt anstrebt, zu einer Vielzahl fortschrittlicher Siedlungsbauten, darunter die Steenkampsiedlung in Osdorf. Bekannt ist Oelsner für die Verwendung von gelbem Klinker. In der architektonischen Formensprache ist eine frühe Hinwendung zum kubischen Neuen Bauen realisiert. Dazu gehören eine schlichte Baugestaltung mit Gestaltungselementen wie dem Flachdach oder hinter der Fassadenebene liegende Loggien.

Durch Abschluss der Stadterweiterungssiedlungen nach 1933 wird der backsteinerne „Gürtel um Hamburgs alten Leib[16] zum Backstein – “Kranz“ erweitert.
Diese Anfänge der Backsteinstadt gehen allerdings schon bald in Luftangriffen unter, die als Vergeltungsmaßnahmen auf die Bombardements Nazideutschlands britischer Großstädte folgen.

Unter der britischen Militärregierung beginnen 1945 die Wiederherstellungsarbeiten der Stadterweiterungssiedlungen in einer Qualität zwischen Rekonstruktion und Neubau aber in Backstein und auf dem reformierten städtebaulichen Grundriss. Die akute Wohnungsnot wäre ein treffendes Argument gewesen zu den gründerzeitlichen Baustrukturen in einer, den Materialengpässen der Nachkriegszeit geschuldeten Putzausführung zurückzukehren. Stattdessen trägt das Reformkonzept Schumachers Früchte, das durch Gustav Oelsner als Referent für Wiederaufbau maßgeblich befördert wird: innerhalb des vorhandenen Straßenrasters, vielfach auf städtebaulichem Grundriss der gründerzeitlichen Blöcke entsteht anstelle der gründerzeitlichen Stadt ein Backsteinring mit viergeschossigen Streifen- statt Schlitzbauten, Backsteinfassaden sowie wohnungsnahen Grün- und Freiflächen.

Mit der erweiterten Backsteinerhebung von 2014 wird diese Initial-, Wiederauf- und Neubauleistung zum ersten Mal als städtebauliche Suprastruktur auf gesamtstädtischer Ebene sichtbar, wie in der Vision Schumachers 1929 als „Gesetz des Wachstums“ formuliert[17]. Es zeigt sich, dass die  Backsteinquartiere des Backsteinsiedlungsgürtels  Teil einer gesamtstädtischen, städtebaulichen Suprastruktur, des Backsteinrings sind. Dieser könnte sich als einer der wichtigsten städtebaulichen Zeugnisse der jüngeren Hamburgischen Baugeschichte erweisen.

Abb.3 Überlagerung des Schumacher’schen Achsenkonzeptes mit dem Backsteinbestand von 2014 (S. Reershemius: Schumacher:1921 und Karte Kompletter Backsteinbestand: https://www.hamburg.de/backstein/ Gesamtstadt)

Werden an die Quartiere der 1950er Jahre die Schumacher’schen Reformkriterien angelegt, lässt sich feststellen, dass auch hier die vier  Reformeigenschaften – neben Backsteinfassade – die städtebauliche Integration eines Grünsystems, eine begrenzte Geschossigkeit sowie Streifenbauweise in der Regel zutreffen sodass sie sich ebenfalls der Neuen Wohnstadt Schumachers zuordnen lassen. In manchen Gebieten der 1960er Jahre entstehen unter Aufgabe zweier Reformkriterien (begrenzte Geschossigkeit sowie Streifenbauweise) Wohnhochhäuser. Auch diese lassen sich  als Weiterentwicklungen der Neuen Stadt verstehen: So werden sie zur Belebung des städtebaulichen Höhenprofils stadträumlich platziert – eine Überlegung, die Schumacher beim modellmäßigen Bauen als “Wechsel von Dominante und Ruhe” [18] ebenfalls verfolgt – und ihre Höhe über tiefere und begrünte Abstandsflächen ausgeglichen.

Die Aufrechterhaltung des städtebaulichen Reformanspruchs in der gründerzeitlichen Stadt lässt sich sowohl in ihrem Wiederaufbau als Neuen Stadt als auch den Sanierungen des erhaltenen gründerzeitlichen Gebäudebestandes wiedererkennen, die während der 1970er und 1980er Jahre in groß angelegten Programmen städtebauliche z.B. durch Öffnung und Entkernung vieler Innenhöfe umgesetzt wird.

Nachfolgende Entwicklungen
Die reformierten gründerzeitlichen Wohngebäude haben sich inzwischen zu gesuchten und teuren Lagen entwickelt. Möglicherweise auch in Ermangelung kaum noch vorhandener Erinnerungen an das düstere Leben in den ehemals verdichteten gründerzeitlichen Quartieren und Gebäuden scheint damit allerdings auch die frühere Dichte für Wohnraum grundsätzlich rehabilitiert und  als Vorbild für die Nachverdichtung in einer Reform der reformierten Stadt zu taugen: das Grünsystem im Wohnumfeld wird dabei zum „Abstandsgrün“ und die reformierte Stadt zur Baulandreserve. Die Streifenbauweise gilt als unwirtschaftlich. Eine Bautiefe von – erneut – um 20 m sowie eine maximal mögliche Höhenentwicklung von deutlich über fünf Geschossen sind wieder vielfach realisierte Ziele im Wohnungsneubau. Weit mehr als die gründerzeitlichen Vierspänner sind genehmigungsfähig. Der Verkehrslärm aus der autogerechten Stadt erweist sich auch angesichts einer an der Schwelle stehenden Elektrifizierung und „Ent- PKW- isierung“ der Mobilität als ein Hauptargument für die scheinbare Notwendigkeit von geschlossener Bebauung entlang der Hauptverkehrsstraßen. Die Wiedereinführung von Korridorstraßen zeigt sich jedoch als kontraproduktiv für den Erhalt eines gesamtstädtisch wirksamen Grünsystems, das seinerseits eine dem Klimawandel entgegenwirkende Belüftung der Stadt maßgeblich unterstützt. Die Schaffung von möglichst viel Wohnraum entlang historischer Hamburger Ausfallstraßen ermöglicht es scheinbar einerseits, dieses Konzept der Verdichtung durch das Achsenkonzept zu legitimieren, das seit 1921 das unangefochtene Leitbild der Hamburgischen Stadtentwicklung darstellt. Andererseits könnte sich dieser Ansatz mit beidseitig eingefassten Korridorstraßen  als postreformiertes “Remake” des gründerzeitlichen Stadtkonzeptes erweisen, das dem Schumacher’schen Reformgedanken zuwiderläuft.

Fazit
Durch Schumacher während der Weimarer Republik begonnen, hat sich im Verlauf des zwanzigsten Jahrhunderts der städtebauliche Paradigmenwechsel von der liberalistischen zu Schumachers Stadt des Sozialen Städtebaus vollzogen: Der 2014 dokumentierte Backsteinbestand wird determiniert von  Backsteinring und Backsteinachsen als (städte-) bauliches Resultat sozialstädtebaulicher Konzepte, die Hamburg zur Backsteinstadt qualifizieren. Fritz Schumacher und eine die Zeichen der Zeit lesende Stadtregierung haben die Grundlagen für eine gestalterisch profilierte und bis heute zukunftsfähigen Stadt gelegt. Die vier Fundamente der Backsteinstadt Hamburg nämlich Grünsystem, begrenzte Geschossigkeit, Streifenbauweise und Backsteinfassade erscheinen nicht nur als eine gesamthamburgisch wahrnehmbare, städtebauliche Suprastruktur erhaltungswürdig, sondern haben sich auch auf dem Wohnungsmarkt bewährt. Als kleinteiliges, elektromobiles und klimawandeltaugliches städtebauliches Konzept geben sie wertvolle Hinweise, wie eine zukunftsfähige Stadt aussehen könnte.

 

 

[1] vgl. Fritz Schumacher: Hamburg und seine städtebauliche Aufgabe in: Hg. Architekten- und Ingenieurverein, 1929, S. 11

[2] vgl. (Schumacher, Das Werden einer Wohnstadt. Bilder vom neuen Hamburg., 1932), S. 23

[3] Schlitzbauten: eine für die gründerzeitliche Wohnbebauung in Hamburg typische Bauweise, bei der nach innen geführte Schlitze die Oberfläche der Hinterfronten der bis über 20m tiefen Baukörper erhöhen und mit zusätzlichen Fenstern belichtet und belüftet werden.

[4] vgl. (Schumacher, Die Kleinwohnung. Studien zur Wohnungsfrage., 1919), Vorwort, S. 3

[5]  ./.

[6] vgl. (Schumacher: 1932), S. 37

[7] vgl. a.a.O. (Wohnstadt), S. 23 – 30

[16] Die Baugilde 10, Berlin 1928, S. 397 in Hipp, 1985, S.143, Anmerkung 1

[17] vgl. (Hg. Architekten- und Ingenieurverein: 1929), S. 11

[18] vgl. a.a.O. (Schumacher:1932), S. 40

Literaturverzeichnis

Hg. Architekten- und Ingenieurverein. (1929). Hamburg und seine städtebauliche Aufgabe. In F. Schumacher, & A. u. Ingenieurverein (Hrsg.), Hamburg und seine Bauten mit Altona, Wandsbek und Harburg 1919 – 1929. Hamburg: Boysen& Maasch.

Hg: Freie und Hansestadt Hamburg, Büro des Oberbaudirektors. (2010). Handlungsempfehlungen zur Erhaltung der Backsteinstadt Hamburg. Hamburg: BSU Hamburg.

Hipp, H. (1985). Wohnstadt Hamburg. Mietshäuser zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. (2. Aufl. Ausg.). Hamburg: Christians (Hamburg-Inventar Themen-Reihe, 1). .

Schumacher, F. (1921). “Hamburg als wohnungspolitische Frage” in Groß- Hamburg Denkschrift des Hamburger Senats. September 1921.

Schumacher, F. (1932). Das Werden einer Wohnstadt. Bilder vom neuen Hamburg. (d. G.-u. Patriotische Gesellschaft, Hrsg.) Hamburg: Hamburgische Hausbibliothek Georg Westermann.

Schumacher, F. (1919). Die Kleinwohnung. Studien zur Wohnungsfrage. (2. Auflage Ausg.). Quelle & Meyer (Wissenschaft und Bildung, 145).

Schumacher, F. (1919). Hamburgs Wohnungspolitik von 1818 bis 1919. Hamburg: Friedrichsen&Co.

Schumacher, F. (1949 (1935)). Stufen des Lebens. Stuttgart: Deutsche Verlags- Anstalt.